Eröffnungsrede zur Ausstellung in der Stadthausgalerie in Münster, 2015

Udo Scheel

Gestern, Mittwoch, hatte ich das Privileg, die Ausstellung zusammen mit dem Künstler vorzubesichtigen. Wir haben uns alles angeschaut und es sah und es sieht immer noch gut aus. Geredet haben wir wenig. Früher habe ich zu den jungen Künstlern gesprochen, dann mit ihnen und später erwarteten nicht wenige, dass ich über sie spreche. Das tue ich auch gerne, aber da gibt es eine Voraussetzung, nämlich, dass es irgendwann zwischen uns einen Moment der Sprachlosigkeit gegeben hat, wo wir eine Flasche Sekt von der Ecke geholt und aus Pappbechern auf ein gelungenes Bild angestoßen haben. Das Erreichen der Kategorie Bild als eine wesentliche Kunstform dauert mindestens 18 Monate, wie Philipp Hackert in Caserta (bei Neapel) dem Italienreisenden J.W. Goethe prognostiziert. „Sie haben Anlage, aber Sie können nichts machen“. Selbst bei guten Voraussetzungen kann es auch Jahre dauern. Es gibt gute Maler in der Stadt Münster, Klaus Geigle ist einer der besten, und was in Münster gut ist, ist überall gut. Gestern nach der Vorbesichtigung dachte ich an Antonionis Film „Blow up”, an die Szene mit den geräuschvoll windbewegten Baumkronen in irgend einem Park des nachts. Der Protagonist macht ein paar Fotos, angeregt durch einen undefinierbaren hellen Fleck. Im Entwicklungsbad in der Dunkelkammer kommt Erstaunliches zu Tage.

Auch in unseren Assoziationslabyrinthen werden Geigles Bilder nachwirken und eigene Vorstellungsbilder evozieren. – Man erliegt dem suggestiven Sog dieser Bilder, der atmosphärischen Einstimmung, sieht sich in verwahrloste, abgenutzte, verlassene städtische Ecken und Randzonen versetzt, heftet den Blick auf schrundigen, abgefahrenen, aufgebrochenen Asphalt, der, obwohl nicht abgemalt, verblüffend echt wirkt. Fahrbahnmarkierungen leiten den Blick perspektivisch weiter über Bordsteinkanten zu vernachlässigten Grünstreifen, bepflanzt mit Buschwerk von schattenhaftem Dunkel-oder ermattetem Graugrün, dass kulissen=haft die Bildbühne begrenzt, hinterfangen von z.B. weiß verputztem Mauerwerk—oder besser von opaken Flächen aus differenzierten Weißtönen. Hier endet die Aussicht. — Das für Geigle charakteristische Spiel mit den Realitätsebenen wird zum Beispiel in dem Bild „Flight Bike“ besonders anschaulich: die Schablonenmalerei eines Fahrrads auf der Fahrbahndecke wird von einem Taubenflügel als Lenker komplettiert und beides wiederum in der Bildfläche vereint. In neueren Bildern entdecke ich auch häufig eine andere Kombination: scheinräumliche Figuren werden von zitierter abstrakter Flächenmalerei umspielt. Zu meiner Information notierte der Maler auf einen Zettel, sozusagen als Formulierungshilfe: Agave – Parkplätze, Hasen plus Agave, Pflanzkübel. Nur soviel, alles andere ist Betrachtung.                                  Die zwischen die Bildbegrenzungen gespannten, vehement und subtil gemalten Flächen, die hier und da aufreißen, sind und bleiben Malerei, ob sie Wiesen, Asphalt oder Lehmboden suggerieren. In diesen „Bildgrund“ sind, dem bekannten Bild-im-Bild-Prinzip verwandt, umgrenzte Zonen eingebettet: Rabatten und Verkehrsinseln. Eine ins säkulare, ins unparadiesisch Alltägliche gewendete Form des „hortus conclusus“. Haseninseln, deren Grenzen nicht überschritten werden dürfen, denn dann gilt wieder die Straßenverkehrsordnung. Beides: Formpräsenz und Dingmagie in Bezug auf Fiktion und Realität—in Vorstellung und Wahrnehmung—unterliegen in der Malerei dem Gesetz künstlerischer Notwendigkeit. Alles muss im Malprozess Bestand haben. „Ganz bei sich und ganz bei der Sache“, charakterisiert Timm Ulrichs den Maler Geigle. Ich füge hinzu: „Und vollkommen im Bilde“.

In „Alte Meister“ von Thomas Bernhard wird ein älterer Herr, der Musikkritiker Reger, beschrieben, der seit 30 Jahren dreimal wöchentlich das Kunsthistorische Museum in Wien besucht, um von der gepolsterten Mittelbank  im Bordone-Saal ein bestimmtes Gemälde zu betrachten. „Kunstgeschwätz“ geht ihm auf die Nerven. Dem unbedarften Museumswärter Irrsiegler bringt er bei „…. wie Kunstwerke zu verstehen sind durch Betrachtung“. Er hat Gründe ins Kunsthistorische zu gehen und nicht ins Naturhistorische gegenüber. — Richten wir unser Augenmerk auf die neuen Agaven-Bilder. Mit dieser dickfleischigen, dornspitzigen, randstacheligen,rosettenförmigen Pflanze (Brockhaus) erscheint eine dominante Figur auf den Verkehrs-Rabatteninseln. Außerhalb der begrenzten Flächen bringt es die Pflanze nur zu Negativformen, zu Aussparungen. Aber das sind keine Agaven, das sind Bilder. “Ce ci n’est pas une agave“. Dieses hier ist eine Agave. (Ein Blumentopf mit einer Agave wird dem Künstler überreicht.)

Auf der Einladungskarte werde ich zitiert: „… Das fast Nichts, der Mangel an jeglicher Sehenswürdigkeit entbindet Geigles Malerei von Darstellung und Berichterstattung und gibt ihr die Strahlkraft des künstlerischen Bildes“. Ja, schon. Ein Bild ist ein Werk der Kunst. Alle geistigen und materiellen Gegenstände, auf die sich ein Künstler bezieht, sind von gleichem Rang, aber nicht von gleicher Wirkung. Nach der Apotheose der Agave darf das Geiglesche Wappentier, der Hase, nicht verblassen (zum ghost rabbit). Nach Hasenart schlage ich ein paar gedankliche Haken: Meister Lampe, Lütt Matten, Morgensterns Löffelzwerg, die beliebte Zunft der österlichen Saisonmaler, die Massenpopulation der Goldpapier-Hasen. Toten Hasen Kunst zu erklären werden ich nicht versuchen. Tierliebe und die Freude an akurater Naturdarstellung mag auch dem heimatlosen Dürer-Hasen, der in keine Bildwelt eingebunden ist, zu seiner Karriere als Prototyp von Idylleidolen in Druck-, Nippes- und Kitschversionen verholfen haben. Es ist schon ein doppelbödiger Spaß bei Klaus Geigle In die Hasen-Hamster und Kleintierschule zu gehen. Mit liebevoller Ironie und subtiler Pinselführung lässt er sein Bild-Personal jede Erhabenheitsattitüde unterlaufen und unterbietet jeden Anspruch auf Attraktivität und Ansehnlichkeit seiner Bildakteure, mit dem Erfolg, dass sich Originalität und Bildqualität stets noch steigern. Indem er thematisch in die kleinhasige Ressentiment- ,Kitsch-und Souvenirkiste greift, behandelt er die Lieblingsdinge angestaubter Gemütlichkeit, kleinkarierter Verniedlichungs-und Verhübschungsneigungen und- Zwänge mit Liebe zum Kuriosen, Absurden, zum Liegengelassenen, Unbeachteten, zu abgegriffenen Fotos…..  Ist es vielleicht das Changieren  zwischen der Überbetonung des Belanglosen, der scheinharmonischen Idylle, der Postkarten – Schablonenwelt mit der gleichzeitigen Realitätsnähe, den scharfen Beobachtungen des Radfahrers auf seinem Weg zur Arbeit, dem Nahblick auf Busch und Strauch, Blumenkübel, Beton und Straßenkanten—auf das, was wir am meisten sehen und am wenigsten beachten? „Der Zwölf-Elf senkt die linke Hand, dann wieder schläft das ganze Land.“ Der Maler legt den Pinsel nieder und die skatbegeisterten Hamster klopfen ihre Pfeifchen aus und ziehen sich in ihre Schauvitrinen zurück. Wir aber nehmen uns an Herrn Reger ein Beispiel und betrachten lange die ausgestellten Werke, zum Beispiel das wunderbare Bild: „Dunkle Verkehrsinsel” ein Hauptwerk mit großer poetischer Ausstrahlung.

Zum Schluss: Gegenwärtig haben wir wieder genügend Anlässe über Preis und Prestige, Wert und geistige Teilhabe in Bezug auf Werke der Kunst nachzudenken. Ihnen, den Freunden und Besuchern, wünsche ich Freude und Gewinn bei der Betrachtung der Bilder.